* 27 *

27. Botenratten
Ratte

Der Osttor-Wachturm stand merkwürdigerweise auf der Westseite der Burg. Eine besonders kleinliche Königin hatte ihn vor so vielen Jahren versetzen lassen, dass sich niemand mehr daran erinnerte, warum. Der kleine, runde Turm saß fröhlich oben auf der breiten Burgmauer, und wenn man auf seine Spitze kletterte, konnte man kilometerweit über die Wälder sehen, die im Süden und Südwesten an die Burg grenzten.

In den guten alten Tagen, als der Botenrattendienst florierte, hatte der Turm noch von Ratten gewimmelt, doch jetzt hatte er nur eine einzige – tieftraurige – Ratte aufzuweisen. Der matte Schein einer einzelnen Kerze fiel durch das kleine Fenster im unteren Stock, und an der alten verwitterten Tür waren drei Zettel angeschlagen, deren Inhalt immer verzweifelter klang. Auf dem ersten stand:

RATTEN FÜR BOTENRATTENDIENST GESUCHT
BERUFSERFAHRUNG
NICHT ERFORDERLICH
WIR BIETEN VOLLE AUSBILDUNG
BEWERBUNGEN IM BÜRO

Auf dem zweiten stand:

SPITZENLÖHNE
WIR ZAHLEN DOPPELT SO VIEL WIE IN PORT!
LASSEN SIE SICH DIESE EINMALIGE CHANCE
NICHT ENTGEHEN!!

Und auf dem dritten:

VERPFLEGUNG FREI!!!!!

Stanley machte es sich für seine vierte Nacht im Osttor-Wachturm gemütlich. Er hatte in dem alten Büro im Erdgeschoss Quartier bezogen. Vor ihm standen die Reste seines Abendessens, das er aus einer sehr ergiebigen Mülltonne, die ein paar Türen weiter vor einem kleinen Haus an der Burgmauer stand, gefischt hatte. Der Hackfleisch-Kartoffelbrei-Auflauf hatte heute Abend ganz vortrefflich geschmeckt, und besonders hatte es Stanley die Auflage aus kalter Vanillesoße und zermatschten Tomaten angetan – obwohl er von den knusprigen Stücken weniger überzeugt war, da er den Verdacht hatte, dass es sich um abgeschnittene Zehennägel handelte. Doch alles in allem hatte er gut gespeist, und mit Zufriedenheit nahm er zur Kenntnis, dass er, was den Müll anderer Leute anging, seinen guten Riecher noch nicht verloren hatte.

Doch abgesehen von solchen Erfolgen bei der Nahrungsbeschaffung standen die Dinge schlecht. Der Botenrattendienst kam, wie sich zeigte, nur sehr schwer wieder in Gang, obwohl Stanley alles Erdenkliche getan hatte. Er hatte sogar das Büro aufgeräumt, Humphreys alten Schreibtisch abgestaubt, das wacklige Bein geleimt und schließlich aus einem Blechkoffer unter den Fußbodendielen das Botenhauptbuch, den Terminkalender, den Patentrattenreiseplaner und Preislisten hervorgeholt. Alles war einsatzbereit und wartete, doch es gab ein großes Problem – es gab keine Ratten. Stanley hatte die ganze Burg abgesucht und nicht eine gefunden.

Doch als Stanley an diesem Abend mit der ungewöhnlichen Kombination von vollem Bauch und gedrückter Stimmung einsam hinter seinem Schreibtisch saß, roch er zu seiner Freude plötzlich eine Ratte. Er schnupperte aufgeregt. Es war ein sehr starker Rattengeruch. Das mussten mehrere Ratten sein. Mindestens ein Dutzend, schätzte er, und alle kamen, um sich auf seine Anzeige hin zu bewerben. Was für ein Glück.

Als es klopfte, wäre Stanley am liebsten zur Tür gerannt, doch er zügelte sich. Stattdessen ergriff er seinen Stift, schlug das Botenhauptbuch auf und las darin, als ob er den Arbeitsrückstand eines hektischen Tages aufholen müsste. Dann rief er, wobei er sich alle Mühe gab, beschäftigt und rührig – statt über alle Maßen aufgeregt – zu klingen: »Herein!«

Die Tür flog auf, und die größte Ratte, die Stanley in seinem ganzen Leben gesehen hatte, marschierte herein. Stanley fiel prompt vom Stuhl.

Ephaniah Grebe wartete geduldig, bis Stanley sich vom Boden aufgerappelt und unter Aufbietung seiner ganzen Würde wieder den Stuhl erklommen hatte. »Nur ein Test«, murmelte Stanley. »Wir sehen es gern, wenn sich unsere Ratten durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Sie haben bestanden. Wann können Sie anfangen?«

»Ich bin nicht wegen einer Anstellung hier«, antwortete Ephaniah, froh, dass er laut mit jemandem sprechen konnte, der ihn verstand.

Stanley war tief enttäuscht. »Sind Sie sicher?«, fragte er. »Wie wäre es mit einer kleinen Nebenbeschäftigung als Botenratte? Halbtagskräfte stellen wir nur diese Woche ein. Ich würde zugreifen, solange es noch geht. Es ist eine einmalige Gelegenheit.«

»Das ist es ganz bestimmt, nur leider bin ich bereits ganztätig beschäftigt, besten Dank. Ich möchte eine Nachricht aufgeben.«

»Oh«, rief Stanley und merkte erst dann, dass er nicht so erfreut klang, wie er eigentlich sollte, denn schließlich hatte er seinen allerersten Kunden. Aber er hatte sich alles ganz anders vorstellt. Er hatte davon geträumt, hinter seinem Schreibtisch zu sitzen, während eine Mannschaft sportlicher junger Ratten die Nachrichten beförderte. Diese würde er selbst überbringen müssen. »Wohin?«, fragte er und betete, dass es nicht die Marram-Marschen waren.

Ephaniah Grebe zog einen Zettel hervor und las, mühsam Beetles Handschrift entziffernd, laut vor: »Die blaue Bogentür, Oberer Turm, Echoende, Anwanden.«

Stanley atmete erleichtert auf. »Und wie lautet die Nachricht?«

»›Liebe Mum‹«, las Ephaniah etwas befangen weiter. »Ich muss in einer dringenden Angelegenheit verreisen, bin aber bald wieder zurück. In dem alten Krug am Fensterplatz ist etwas Geld versteckt. Bitte, mach Dir keine Sorgen. In Liebe Beetle xxx.«

Stanley schrieb die Zeilen mit fröhlicher, schwungvoller Gebärde in das Nachrichtenbuch. Die konnte er sich merken. Kurz und freundlich, so liebte er sie.

»Es ist dringend«, sagte Ephaniah. »Bitte so bald wie möglich.«

Stanley seufzte. All die Ungelegenheiten in seiner Zeit als Botenratte fielen ihm wieder ein. Nach seiner Erfahrung war es immer dringend. Nie dachte jemand voraus. Nie sagte jemand: »Ich würde gern in drei Tagen eine Nachricht verschicken. Schieben Sie mich einfach irgendwo dazwischen, wie es für ihre Terminplanung am günstigsten ist.« Aber Kunde war Kunde, und wenigstens kam jetzt etwas Geld herein. Er blätterte unter viel Aufhebens in der Preisliste, obwohl er genau wusste, dass die Anwanden in der Gebührenzone Eins lagen.

»Wollen mal sehen ... das macht einen Penny für eine ausgehende Nachricht. Zwei Pennys, wenn die Ratte auf Antwort warten muss. Drei Pennys für die Zustellung der Antwort am nächsten Tag. Bezahlung nur in bar und im Voraus.«

»Ich gebe die Nachricht im Auftrag Prinzessin Jennas auf«, sagte Ephaniah Grebe. »Und soviel ich weiß, kommt sie in den Genuss eines speziellen Einführungsangebots – ein Jahr lang alle Nachrichten umsonst.«

»Das gilt nur für Nachrichten, die direkt aus dem Palast kommen und persönlich aufgegeben werden«, erwiderte Stanley energisch. »Für alle anderen sind die üblichen Gebühren zu entrichten. Also, was darf es sein: Nachricht einfach oder mit Rückantwort?«

Ephaniah Grebe verließ den Osttor-Wachturm um drei Pennys ärmer – er hatte noch zwei weitere Nachrichten aufgegeben, eine an Sarah Heap und eine an Marcia Overstrand –, doch unter seinen Rattenschnurrhaaren zeigte sich ein zufriedenes Lächeln. Mit unverhülltem Gesicht, sodass seine Rattennase ungehindert die Nachtluft schnuppern konnte, ging er langsam zurück zum Manuskriptorium, wobei er den breiten Weg nahm, der oben auf den Burgmauern entlangführte. Er genoss es, dass er seinen empfindlichen Schwanz, wie es eigentlich sein sollte, hinter sich herziehen und über die kalten Steine schleifen lassen konnte, was ihm half, beim Aufrechtgehen das Gleichgewicht zu halten. Manchmal tat es gut, seiner Rattennatur nachzugeben.

Während Ephaniah auf der Mauer entlangspazierte, wie er es von Zeit zu Zeit tat, wenn ihm im Keller des Manuskriptoriums die Decke auf den Kopf fiel, blickte er auf die Dächer der kleinen Häuser hinab, die sich eng an die alten Steine schmiegten. Die Kerzen in den Dachfenstern strahlten in die Nacht heraus, und in den Kammern mit ihren schrägen Decken sah Ephaniah Menschen – richtige Menschen ohne eine Spur von Ratte an sich – ihren Beschäftigungen nachgehen. Ob sie am Kamin nähten, die Reste eines kargen Abendessens wegräumten, ein Baby fütterten oder einfach nur in einem bequemen Sessel schlummerten, keiner von ihnen bemerkte, dass draußen vor ihren Fenstern ein schüchternes Wesen, halb Mensch, halb Ratte, vorüberging und in ein Leben blickte, das es selbst hätte führen sollen.

Ephaniah schüttelte die traurigen Gedanken ab, so wie eine Ratte einen gut gezielten Eimer Putzwasser abschüttelte, und ging rasch weiter. Als das blecherne Mitternachtsgeläut von der Uhr am Tuchhändlerhof heraufwehte, gelangte er an die Treppe, die nach unten ins Manuskriptorium führte. Er blieb auf der obersten Stufe stehen und ließ, ehe er wieder in seinen hell erleuchteten Keller hinabstieg, ein letztes Mal den Blick über die Burg unter ihm schweifen. Es war atemberaubend schön. Der Mond, der hoch am Himmel stand, ergoss sein kaltes weißes Licht über die Dächer und warf lange Schatten in die Gassen tief unten. Unzählige kleine Kerzenlichter flackerten auf der weiten Fläche der Burg, viel mehr, als Ephaniah jemals gesehen hatte. Verwirrt stand er einen Augenblick lang da und fragte sich, warum er so viele Kerzen sehen konnte – und dann begriff er. Die magischen Lichter, die den Zaubererturm sonst jede Nacht lila und golden beleuchteten, waren erloschen. Es war, als sei der Turm nicht mehr da. Ephaniah spähte angestrengt in die Dunkelheit, und nach einer Weile konnte er schwach die Umrisse des Turms vor den mondbeschienenen Wolken ausmachen. Doch aus dem Turm selbst drang kein Lichtschein nach außen. Der Zaubererturm stand unter Belagerung.

Septimus Heap 04 - Queste
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